Der Kern: Mythos nationaler Wiedergeburt (Teil 2)

von macchiato

(Vorbemerkung: Wenn wir ein Interview für Zwecke der politischen Bildung aufzeichnen, ersuchen wir unsere Gesprächspartner jedes Mal, sich einfach auszudrücken – und sich zunächst selbst vorzustellen.)

„Ich bin Roger Griffin, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität von Brookes, der zweiten Universität von Oxford (das ist nicht die berühmte Oxford University, sondern ein bisschen wie eine technische Hochschule, die zur Universität geworden ist). Ich habe mich seit den Achtziger Jahren sehr mit dem Faschismus, mit der Bedeutung dieses Wortes und mit den verschiedenen Formen und Spielarten des Faschismus befasst. Als ich angefangen habe, Bücher über den Faschismus zu schreiben, waren diejenigen, die das Wort Faschismus benutzten, meistens Sozialisten. Ich habe eine Reihe von Büchern und Artikeln geschrieben, die versucht haben, die Leser zu überzeugen, dass der Begriff „Faschismus“ einen Sinn ergibt, wenn man ihn als einen Mythos der nationalen Wiedergeburt bezeichnet.“

Bringt das wirklich etwas, so unterschiedliche Phänomene zu vergleichen, und zu verallgemeinern – bis hin zu Ihrem Konzept von generic fascism? Und wenn, was bringt das?

„Das ist natürlich eine schwierige Frage für einen Historiker. Im allgemeinen befasst sich der Historiker mit einzigartigen Phänomenen und Ereignissen. Die meisten Historiker seit dem 2.Weltkrieg haben sich mit dem Faschismus in Italien und mit dem Nazismus in Deutschland als Einzelphänomenen befasst. Diejenigen, die sich mit dem Faschismus als allgemeinem Phänomen befasst haben, d.h. mit verschiedenen Faschismen, waren meistens Sozialisten. Die Sozialisten haben immer geglaubt, dass der Faschismus und Nazismus in Italien einen gemeinsamen Kern hatten, indem sie eine Reaktion gegen den Aufstieg des Kommunismus waren und die Arbeiterbewegung bekämpfen und vertilgen wollten…“

Entschuldigung, der Kommunismus ist heute in Europa ja mausetot, und dem Sozialismus geht es auch nicht besonders gut. Was bringt es dann, wenn wir heute sagen, Faschismus, der Ausdruck ist keine Leerformel, der beinhaltet wirklich Gemeinsamkeiten? Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus?

„Ich habe meine Karriere darauf aufgebaut, dass ich in dem Begriff Faschismus einen gewissen mythischen Kern identifiziert habe, und zwar den Mythos der Wiedergeburt der Nation. D.h. dass die Nation vor dem Faschismus in einem Zustand des Verfalls und der Dekadenz war, dass die Nation irgendwie vor die Hunde ging, und in Gefahr war, sich vollkommen zu zerstören. Aber die Faschisten haben geglaubt, dass es doch eine Rettung, eine Lösung für diese Krise gab, die nicht im Kommunismus lag, und bestimmt nicht in der Fortsetzung des Parlamentarismus, sondern in einer neuen Art von Nationalismus, von Leidenschaft für die Nation, für die Rasse, für die Zukunft, als eine Zukunft, in der die Rasse sich behaupten würde usw.. Das war für die Faschisten selbst nicht eine Reaktion, wie die Sozialisten immer behauptet haben, sondern eine echte Revolution. Eine Revolution nicht in erster Linie der Wirtschaft, sondern der Kultur, der Geschichte, des Willens. Eine Revolution des ganzen Volkes. Sie wollten nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Sie wollten die Erinnerung an die Vergangenheit wiederbeleben, um in eine heldenhafte, kraftvolle Zukunft voranzuschreiten. Auch wenn die Gegner des Faschismus alles als Nihilismus, als Barbarei, als Zerstörung, als Vandalismus erfahren haben, wurde die ganze Geschichte der Dreißiger Jahre damals doch ganz anders empfunden. Ich habe versucht, in meinen Studien, in meiner Forschung, den Traum der Faschisten selbst als Ausgangspunkt für die Erklärung und für das Nachvollziehen der Geschichte des Faschismus zu schaffen.“

So hochfliegend die damaligen Träume von deutschen und italienischen Übermenschen auch waren, produziert haben sie die größte Katastrophe in Deutschland und Italien, nicht zuletzt auch für die eigene politische Kultur. Der Spuk war ja von relativ kurzer Dauer, historisch betrachtet. Und gewonnen hat ja letztlich auf der ganzen Linie diese angeblich plutokratische, westliche Welt, die laut Hitler völlig „verjudet“ war. Erweisen sich also Faschismus und Nationalsozialismus im nachhinein nicht als eine Art „todessehnsüchtige“ Ersatzreligion für Verlierer? Und sind sie das nicht auch heute noch, speziell für männliche junge loser, labil genug, um anfällig zu sein für faschistoide Großmannssucht, für irgendwelche Superman-Träume?

„Ja, aber was heißt Verlierer? Am Anfang der Dreißiger Jahre gab es nach dem Wall Street Crash, nach dem Zusammenbruch der westlichen Wirtschaft, des kapitalistischen Systems, eine objektive Krise. Also in dem Sinne war die ganze westliche Gesellschaft ein Verlierer. Das war nicht subjektiv, das war objektiv. Die Menschen haben einen Hang, ein Bedürfnis nach Hoffnung, nach Zukunft, nach Erlösung. Hitler, und Mussolini unter anderen Umständen gleich nach dem Ersten Weltkrieg, haben einen Mythos der nationalen Wiedergeburt imponierend formuliert und versinnbildlicht in Wort und Tat, in Aufmärschen, Massenkundgebungen usw., das war für einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung (nie für die Mehrheit) ein Aufbruch aus der Katastrophe der Nation, ein Aufbruch zu einer neue Zukunft. Das war es, was die beiden Führer an die Macht gebracht hat. Und dann haben sie eine totalitäre Gesellschaft aufbauen können, und die Konsequenzen kennen wir. Also in dem Sinn, dass sie eine neue Weltanschauung eingeführt haben, haben sie die Politik in eine politische Religion umgewandelt, haben sie aus Politik quasi eine Religion gemacht.

Italien gleich nach dem Ersten Weltkrieg, und Deutschland am Ende der Zwanziger Jahre
waren zwei Nationen in Krise. Mussolini und Hitler haben einen Mythos der Wiedergeburt angeboten, nicht als theoretisches Projekt, sondern als erlebte Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die sich in Massenversammlungen und Aufmärschen und Symbolen und großen Ereignissen versinnbildlicht hat, und deshalb haben sie Millionen von ganz normalen Menschen zu einer Art politischer Religion bekehrt.

Goebbels hat einmal gesagt, der Zweck einer Massenversammlung der Nazis liege darin, den „kleinen Wurm“ in jedem Menschen zu einem „großen Drachen“ zu machen. Massenversammlung, wie man sie in alten Filmen sehen kann, sind uns jetzt völlig unverständlich, denn wir leben in ganz anderen Zeiten. Aber wenn man eine damalige Massenversammlung in Nürnberg oder in Rom sieht, und alle diese Leute sieht, die so begeistert scheinen von der Gegenwart des Führers, dann ist der Fanatismus, den man immer noch in den Augen der Anwesenden bemerken kann, das äußere Zeichen einer inneren Begeisterung, für eine neue Zukunft, einen neuen Glauben, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl.

Sie hatten das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer neuen Heimat. Das war keine Staatsangehörigkeit mehr, das war „Volksangehörigkeit“. Da war ein neuer Sinn im leben, ein Glaube: Jetzt gehöre ich endlich zu einer echten Gemeinschaft, nicht mehr nur einer inhaltsleeren „Gesellschaft“.

Das nicht als zentrales menschliches Bedürfnis wahzunehmen, ist meiner Ansicht nach der große Fehler der traditionellen Geschichtsschreibung.“

(Quelle: 2.Teil der Mitschrift des Audio-Interviews von faschistensindimmerdieanderen mit Roger Griffin am 25/05/12 in Oxford; 1.Teil gestern 05/07/12:“Der meistzitierte Faschismustheorethiker“; morgen 07/07/12  folgt der zusammenfassende 3.Teil)