Ian Kershaw zur Historisierungsdebatte

Was die Historisierungsdebatte angeht, so urteilt Kershaw im Schlusskapitel seines Buches über Interpretationsprobleme und -perspektiven fast apodiktisch, schreibt von einem Ablenkungsmanöver mit einer Leerformel, die keinerlei fruchtbaren neuen Zugang zum Dritten Reich eröffne, und von einem rein deutschen Ansatz, der irrelevant sei für jene, die die damalige Katastrophe nicht nur als Teil der deutschen, sondern auch der europäischen und der globalen Geschichte ansehen:

„The mooted ‚historicization‘ of National Socialism, however, far from offering fertile new approaches to the Third Reich, is a historiographical red-herring. Quite apart from the evident emptiness of the term itself, ‚historicization‘ represents an approach to the Nazi past which, in contrast to the other approaches analysed in this book, is quite peculiarly German. That is to say, it can have little meaning to those who do not view the Third Reich from some form of German perspective. For those who see the catastrophe of the Third Reich as a part not only of German history, but also of European and world history, whatever meaning might be attached to ‚historicization‘ is either an irrelevance or a distraction.“

In diesem Sinne regen Historiker wie Kershaw dazu an, sich nicht nur in der immer akribischeren Erforschung nationaler oder regionaler Mikrothemen zu erschöpfen und sich und andere damit von wesentlichen Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten (auch für die Zukunft) abzulenken.

Beim Fokussieren auf Auschwitz usw. geht es entgegen der landläufigen Ansicht (in unterschiedlichen Ländern und gegensätzlichen ideologischen Lagern) weder darum, „die Deutschen“ zu verteidigen noch umgekehrt sie quasi in ewige Sippenhaft zu nehmen.

„In fact, there is every reason to retain the focus on what was the genuine historical significance of Nazism. Auschwitz is unique so far in history; but there are, unfortunately, no grounds to assume that a collapse of civilization with similar horrifying results could never occur elsewhere, with different victims and perpetrators. That is all the more reason for Auschwitz to serve as a central reference-point not only for German history, but for modern history in general.

The key question (…) inevitably remains, therefore, how such an unprecedented and rapid ‚collapse of civilization‘ could have come about in the highly developed state system of a modern industrial society.“

Für Ian Kershaw spricht also alles dafür, weiterhin besonderes Augenmerk auf die wahre historische Besonderheit des Nationalsozialismus zu richten: Auschwitz sei einmalig, ja, aber nur bisher.

Wir haben leider keinen Grund zur Annahme, dass ein Zivilisationskollaps mit ähnlichen Horror-Ergebnissen sich nie irgendwo anders ereignen könnte, mit anderen Opfern und anderen Tätern. Umso mehr muss uns Auschwitz als zentraler Bezugspunkt nicht nur für die deutsche, sondern für die moderne Geschichte im allgemeinen dienen.

Die Schlüsselfrage zum Nationalsozialismus lautet: „Wie ist ein so unerhörter und so plötzlicher ‚Kollaps der Zivilisation‘ in einem hochentwickelten Staat einer modernen Industriegesellschaft zustandegekommen?“

Kershaw zitiert Dan Diner, einen vehementen Kritiker der Historisierung, mit der Weigerung, Auschwitz anders verstehen zu wollen denn als geradezu „extrahistorisch“: „Auschwitz is a no-man’s-land of understanding, a black box of explanation, a vacuum of extrahistorical significance, which sucks in attempts at historiographic interpretation.“

Für Kershaw hingegen kommt es nicht in Frage, nur mehr diese „option of despairing incomprehensibility“ zu sehen, solches Sich-Abfinden mit verzweifelnder Unverständlichkeit, solche Kapitulation vor der Mystifizierung, solches Anraten der Verzweiflung: „to capitulate to mystification. Such counsels of despair must be resisted. Ways have to be found of tackling the polarized, but actually interlinked, ’normality‘ and genocide.“

Demnach bringt es keinen Erkenntnisgewinn, wenn wir Normalität und Genozid gegeneinander stellen. Wir müssem sie in ihrer ganzheitlichen Verflechtung zu sehen.

Und wo bleibt die Moral? Sie muss einstweilen zurückstehen.