Neue Perspektiven eröffnen, Überdruss überwinden

Dieser Weblog zur vergleichenden Faschismusforschung soll ein kleiner interkultureller Beitrag zu einer neuen Vermittlungspraxis von zeitgeschichtlicher und politischer Bildung sein, zu einer Vermittlung, die nicht Gefühle des Überdrusses und des Übersättigung, der Ablehnung und Ignoranz erzeugt.Zu ausgiebigen Zitaten -und Beherzigen derselben- inspiriert ein Ausblick in der Mittsommerausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ): „Zur Zukunft des historischen Lernens“ von Hanna Huhtasaari, der Referentin für Erinnerungskultur und Gedenkstätten im Fachbereich Print der Bundeszentrale für Politische Bildung. Zunächst unterscheidet sie beim Thema Nationalsozialismus zwei parallele Phänomene, die vom Wesentlichen ablenken können: Sättigung und Gruselfaktor:

„Ich kann es nicht mehr hören, ich weiß schon alles darüber“

„Wo sind die Gaskammern? So schlimm war es wohl doch nicht“

Die Tatsache, dass Hitler in den Medien präsenter denn je ist,verleite zur Einschätzung, man wisse genug über das Thema, meint Huhtasaari.Bei näherer Betrachtung zeige sich jedoch, dass die Kenntnisse von der Geschichte lückenhaft und abstrakt sind.

Laut Huhtasaaris ist es heutzutage „zum Glück kaum mehr notwendig zu fordern, dass an den Holocaust zu erinnern und der Opfer zu gedenken sei. Die Schülerinnen und Schüler heute haben kaum Erfahrungen damit gemacht, dass diese Geschichte „verleugnet“ oder „verdrängt“ werden sollte.“ Dementsprechend fern liegt den meisten von ihnen das hartnäckige Engagement der „Generation Aufarbeitung„, der in den 1950er und 1960er Jahren geborenen Lehrer und Gedenkstättenpädagogen.

Was dann? Historisches Lernen sollte weder aus Auswendiglernen von Geschichtsfakten noch aus vorgegebenen historischen Deutungen bestehen. Stattdessen ist die Fähigkeit zu vermitteln, Vergangenheit erkennen, Narrative deuten und Geschichtskonstruktionen kritisch hinterfragen zu können.“

Wichtiger also als die Frage, was passiert ist, sei heute die Frage, wie es dazu kam:

Was hat junge Menschen am Nationalsozialismus fasziniert? Wie wird man zum Täter, wie zum Mörder? Wie handelt ein Mensch unter bestimmten Bedingungen und unter einer Diktatur? Warum haben einige geahnt, dass es ein Weg in die Diktatur war? Was waren die Vorzeichen auf dem Weg dorthin und wie kann man diese erkennen? Wie funktionieren Mechanismen der Ausgrenzung – damals wie heute?“

Fragen, die nicht von der Geschichtsschreibung allein beantwortet werden können. Sie erfordern interdisziplinäre Antworten und weitere Fragestellungen:

„Wann werden positive und negative Eigenschaften sozialen Kategorien oder Gruppen zugewiesen? Wie entstehen Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung, wie kommt es zu Ausgrenzung und Ausschluss? Wann wird anderen die Gleichheit abgesprochen?“

Neben der Interdisziplinarität ist Multiperspektivität, neben der Opferperspektive auch erweiterte Täterforschung angesagt, fährt die bpb-Expertin fort:

„...setzte die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wehrmachtsangehörigen beispielsweise erst in den 1990er Jahren ein. Auch die Erforschung der „gewöhnlichen“ Bevölkerung und ihrer Beteiligung sowie der regionalen Verwaltung, der Industrie und ihrer Akteure ist noch weitestgehend ausgeblieben.

Wenn wir heute von Zeitzeugen sprechen, meinen wir in der Regel Opfer des Nationalsozialismus…Dabei ist es doch paradox, die Opfer nach Hintergründen, Handlungen und Ereignissen, die zu Verfolgung und Vernichtung führten, zu befragen – und nicht die Täterinnen und Täter.

Durch Einbeziehung der Akteure (Täter, Zuschauer, Mitläufer, Helfer) lassen sich Fragestellungen entwickeln, die das Geschehen an konkreten Beispielen vor Ort thematisieren:

Wie haben die Menschen reagiert? Wie haben Verantwortliche gehandelt, wurden Handlungsoptionen genutzt?

Statt also die Erwartungen des ‚Gruselfaktors‘ zu bedienen, ist Geschichtsvermittlung möglichst aus verschiedenen Blickwinkeln zu gestalten. Betrachtet man die Geschichte nicht nur aus der Opfer-Täter-Perspektive, sondern bezieht auch Mitläufer, Helfer, Retter, Zuschauer, Profiteure mit ein, ermöglicht dies eine differenzierte Auseinandersetzung und eröffnet Fragen nach alternativen Handlungsoptionen. Vor allem dieser Aspekt ist für die Bildungsarbeit zentral. Die Perspektiverweiterung verdeutlicht, dass die Rollen nicht eindeutig festgelegt sind. Denn aus Zuschauern können Täter, Profiteure oder Kollaborateure werden. Moralisch eindeutige Urteile werden so deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, und eine reine Opferidentifikation wird verhindert.“

Die gebräuchlichste Einengung unserer Perspektive ist jene auf das Nationale, schreibt Hanna Huhtasaari, auf das Ethnische, das Regionale, das Lokale. Das sind den meisten von uns die liebsten Scheuklappen, mit denen wir uns als Wir gegenüber den ceteros, den Übrigen, abschotten:

„In der Regel folgt ein Geschichtskanon einer nationalgeschichtlichen Perspektive und lässt hierbei bestimmte Sichtweisen, beispielsweise von Migranten in einer Gesellschaft, außen vor beziehungsweise vernachlässigt sie. Somit zieht man eine Grenze zwischen der „Wir-Gemeinschaft“ und „den Anderen“.

Aber Geschichte richtet sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern geschieht aus der Gegenwart heraus und folgt einem Interesse an der Zukunft. Konstruktionen von Geschichte erkennen und hinterfragen, Dekonstruieren statt Auswendiglernen von Fakten – das ist das Wesentliche im Zeitalter von Wikipedia, meint die Expertin der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung:

In unserer Informationsgesellschaft haben wir nicht mehr das Problem, Zugang zu Daten und Fakten zu erhalten und Informationen zu beschaffen. Mithilfe von Suchmaschinen erhält man zu fast allen Themen in Sekundenschnelle meist mehrere tausend Treffer. Nur: wie geht man mit dieser Flut an Informationen um? Nach welchen Kriterien soll man Daten bewerten und einordnen? Die neue Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist der richtige und kritische Umgang mit den zur Verfügung stehenden Informationen. Hier muss die politische Bildung Angebote machen. Sie muss Schülern und Studierenden Antworten geben können auf die Fragen, wie Geschichtsrecherche im Zeitalter von Wikipedia aussiehtund welche Geschichtskompetenzen wir zukünftig brauchen. Denn nur wer Information einschätzen, quellenkritisch hinterfragen und vermitteln kann, wird sich in einer digitalen Gesellschaft konstruktiv beteiligen und einbringen können.

Die historisch-politische Bildung hat die Aufgabe, Wege aufzuzeigen, wie die Vergangenheit auf aktuelle politische Fragen bezogen werden kann. Dabei darf sie nicht versuchen, Deutungen der Geschichte zu zementieren, dies führt dazu, Lernende zu bevormunden. Ziel einer demokratischen historischen Bildung sollte daher sein, die Gesellschaft zu einer selbstständigen Reflexion von Geschichtsdeutungen und einer aktiven Beteiligung an Kontroversen zu befähigen.

Dieser Aufsatz von Hanna Huhtasaari macht deutlich, dass die Geschichtsvermittlung zur NS-Geschichte einer neuen Vermittlungspraxis bedarf. Viele Lehrkräfte praktizieren das bereits, machen den Umgang mit Geschichte zum Gegenstand historischen Lernens:

Dabei sollte es weniger um individuelle Schuld, um moralische Appelle oder erhobene Zeigefinger gehen. Stattdessen brauchen wir neue Zugänge zur Geschichte, die aktuelle Fragen der heutigen jungen Generation und neue Perspektiven zulassen. Ansonsten laufen wir Gefahr, Gefühle des Überdrusses und der Übersättigung zu erzeugen, die in Ablehnung und Ignoranz münden.

Insofern ergibt sich eine Verantwortung nicht für das Geschehene: Die Generation von heute und künftige Generationen haben Verantwortung für die Formen der Erinnerung zu übernehmen. Jede Generation sucht sich ihren Zugang zur Geschichte. Erinnerung kann man der nächsten Generation nicht „verordnen“.

Aus der Vergangenheit lassen sich nicht zwingend dieselben Orientierungen für nachfolgende Generationen ableiten. Stattdessen gehören zu einer demokratischen Erinnerungskultur plurale Geschichtsbilder, die in einer Gesellschaft sicht- und hörbar sein sollten. Dies wird immer wichtiger, da Erinnerungen, Geschichtsnarrative und historisches Bewusstsein immer mit Identität verbunden sind.

In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Deutungsmacht stets umkämpft, die Erinnerungskultur dynamisch. Es geht also darum, sich in der Gesellschaft mit ihren historischen Voraussetzungen orientieren und verhalten zu können und widersprüchliche Deutungen in einer sich permanent wandelnden Geschichtskultur zu erkennen, ja anzuerkennen.“

(Quelle: „ApuZ-Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.32-34 vom 6.8.2012, S.13-19, auch online http://www.bpb.de/apuz/141892/nationalsozialismus)