Faschisten sind immer die anderen

comparative fascist studies on Italy and Germany

Kategorie: introductory

Literaturhinweis auf Sammelbände

Die folgenden fünf Sammelbände, die alle in den letzten zehn Jahren erschienen sind, vermitteln vielfältige Ein- und Überblicke sowie erschöpfende Literaturhinweise zur vergleichenden englischsprachigen Faschismusforschung:

  • Iordachi, Constantin(ed.): Comparative Fascist Studies. New Perspectives, Routledge,  Abingdon 2010:  Dieser aktuellste Sammelband zum Thema enthält nach einer umfassenden Einführung des Herausgebers 14 der wichtigsten Texte zur vergleichenden Faschismusforschung, einschließlich Kurzporträts der Autoren: Z.Sternhell, G.Mosse, St.Payne, R.Griffin, R. Eatwell, R.Paxton, M.Mann, A.Kallis, I.Kershaw, E.Gentile und R. Steigmann-Gall  
  • Kallis, Aristotle (ed.): The Fascism Reader (Routledge Readers in History Series), Taylor & Francis, London/New York 2003: ein in acht Themenkreise gegliedertes Lesebuch mit insgesamt 48 Beiträgen namhafter Faschismushistoriker und -theoretiker, von Gilbert Allardyce über   „Generic fascism – an ‚illusion‘? bis Adrian Lyttelton über ‚The March on Rome‘ – fascist triumph or capitulation of the liberal system?“ 
  • Bosworth, Richard J. (ed.): The Oxford Handbook of Fascism, Oxford University Press, Oxford 2009: hier beschäftigen sich zwei Dutzend Autoren vor allem mit dem italienischen Faschismus und seiner ideologischen Vorgeschichte, aber auch mit Vergleichsmöglichkeiten (ohne dem deutschen Nationalsoziasmus viel Platz einzuräumen) und mit weiteren zehn Ländern, wo der Faschismus nur vorübergehend oder gar nicht an die Macht kam.  
  • Campi, Alessandro (a cura di): Che cos’è il fascismo? Interpretazioni e prospettive di ricerca, ed. Ideazione, Rom 2003: Endlich auch auf italienisch: ein Sammelband, der die in der englischsprachigen Welt kursierenden Faschismustheorien von Autoren wie Griffin, Larsen, Paxton, Eatwell, Gregor, Costa Pinto und anderen verdienstvollerweise auch einmal der italienischsprachigen Öffentlichkeit zur Kenntnis bringt.
  • Lob, Werner (Schrftltg.): Erwägen Wissen Ethik (EWE). Jg.15/2004, Heft 3, Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2004:  Dieses anspruchsvolle „Streitforum für Erwägungskultur“ ist besonders den Freunden von offenen bis hitzigen Grundsatz- und Fachdiskussionen zu empfehlen: 23 Wissenschaftler setzen sich auf Deutsch und Englisch mit Roger Griffins Hauptartikel zum aktuellen Kern des „generischen Faschismus“ und dann wieder mit seiner Replik auseinander, bevor er noch einmal zu Wort kommt und seine Position korrigiert.  

Kein Zugang ist „falsch“ (außer der faschistische)

Skeptisch gegenüber „großen“ politikwissenschaftlichen Theorien von einem generic fascism, für die das Ideologische konstituierend ist, bleiben viele, die soliden geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen aller Aspekte der real existierenden Faschismen der Zwischenkriegszeit mehr Aussagekraft beimessen.

Hier bestätigt sich, wie gegensätzlich die Sichtweisen der Geschichts- und der Politikwissenschaft anmuten können (zusätzlich befruchtet von Anthropologen, Soziologen, Psychologen und anderen). Dabei sind sie nur unterschiedlich, durchaus miteinander zu versöhnen, und zwar Erkenntnisgewinn bringend für alle. In dieser Richtung ermutigen uns unter anderen Robert O.Paxton, Zeev Sternhell und Constantin Iordachi zu unserer vereinfachenden, vorläufigen Schlussfolgerung:

Wenn man schon über zwei unterschiedliche methodische Zugänge zum Faschismus verfügt, einen auf dem Weg über die faschistische Ideologie und einen anderen über die faschistische Wirklichkeit, dann kann man vielleicht aus der Not eine Tugend machen, z.B. indem man den Untersuchungsgegenstand zweiteilt in den einen, den ideologischen Faschismus, und den anderen, den real existierenden Faschismus. Möglicherweise entwickelt sich dann mehr konstruktiver Erkenntnisfortschritt, und vielleicht sogar wirklich ein -beschränkter- „neuer Konsens“ zwischen beiden Denkschulen und Disziplinen, der „generischen“ und der „historischen“.  

No final solution, not even to the fascist question

This blogger is now even more convinced then at the start of this half a year ago, that a text-only but trilingual weblog, offering insight and examples on a subject as intricate as comparative fascist studies by English speaking scholars, can be an innovative original and useful additional instrument to exercises in intercultural and multiperspectival history teaching and civic education.

This blog does not claim to cast a new light on this subject. It is about time to confirm this quite frankly, after more than a hundred posts on it. Together they form nothing more than an eclectic syncretic and synthetic collection of necessarily incomplete and imperfect flashlights on comparative Anglophone fascist studies for educational purposes.

There is of course, a very broad,  very general consensus to be registered

– on the „Italianity“ of the first fascism that came to power,

– on Nazism being the most murderous relative of it,

and on some features which all fascisms had in common, e.g.

– revolutionary ultranationalism,

– religion-like style symbolism and „believers“ activism,

– fervent anti-individualism and anti-Marxism,

– autocratic leadership and authoritarian centralist regimentation,

– „cathartic“ cult of brutal repression violence war and expansion,

– state-of-the-art propagandistic and psychological domination

etc.

But the author would not go much further, as far as Anglophone scholar’s consensus is concerned. Each time he met yet another fresh perspective opened by altogether two dozen Anglophone scholars, his natural reaction was: this one is at least as „essential“ as the one before. Almost all of them convinced him in their own way. But this blogger really can detect no real specific big consensus on the most intricate questions raised by extremely contested phenomena such as fascism.

If there is a conclusion he is drawing from compiling this collection, after the relevant reading and interviewing, it is this: not many really incompatible views, but no all-encompassing conclusion either, here and now. So, no „final solution“ of the „fascist question“.

Why all this wealth of lively pluralism in Anglophone fascist studies should seem deplorable to some, escapes the author’s attention. In his view, this is -and has to stay- an open-end debate. Incidentally, that is precisely the reason why he holds a blog to be a logical and original way to go about it, serving the above-mentioned horizon-widening cause.

Eigene „Schlüsselwortwahl“ zum Gattungsbegriff Faschismus

Aus unterschiedlichen anglophonen Faschismusdefinitions- und Erklärungsversuchen nun stichwortartig einen relativ breiten Konsens über einige deutsch-italienische Gemeinsamkeiten herausdestillieren zu wollen, erscheint  fast unmöglich. Trotzdem fühlt sich der Unterfertigte bemüßigt, hier nun auch selbst eine persönliche Auswahl von Schlüsselworten (eine von vielen möglichen) offenzulegen, die er mit dem Begriff „Faschismus“ assoziiert. Dass auch er sich dieser Übung unterziehen wollte, rechtfertigt er einerseits unter seinem Hauptgesichtspunkt der politischen Bildung und andererseits unter dem Aspekt der persönlichen Transparenz. Hier also, aus der bescheidenen persönlichen Warte und Formulierung des Unterfertigten, die Stichworte, die er zum Zeitpunkt des Schreibens wählen würde, um gerade aus unserem historisch belasteten Grenzgebiet heraus zu Seitenblicken über die eigenen Provinzgrenzen hinaus anzuregen. Seitenblicke auf heutige und künftige Risiko- und Präventionspotentiale rund um den Faschismus als grenz- und epochenüberschreitendes Phänomen:

Mehrfachkrise als Entstehungsbedingung

(in den beiden „spätgeborenen“ und „weltkriegsverletzten“ Staaten Italien und Deutschland besonders virulent):

  • Identitäts- und Wertekrise

  • Parlamentarismuskrise

  • Weltwirtschaftskrise

Endkampfstimmung  als Weltanschauung

  • Umstürzlerischer Ultranationalismus

  • Heilserwartung an einen unanfechtbaren Führer

  • Anti-Pluralismus und Anti-Liberalismus

  • Anti-Egalitarismus und Anti-Marxismus

  • Mythos der homogenen Gemeinschaft (national, „rassisch“, kulturell)

  • Angst vor tödlicher Bedrohung des eigenen „Volkskörpers“ durch „Infizierung“

  • Glaube an einen schicksalhaften, sozialdarwinistischen „Endkampf“ der Völker ums Überleben:

  • Verherrlichung von Wehr- und Mannhaftigkeit, Gewaltanwendung, Expansion und Krieg

  • Glaube an kollektive Erneuerung und erlösende Wiedergeburt

Massenmobilisierung als Wunderwaffe

  • Führerprinzip: alles muss schnell und entschlossen von oben nach unten entschieden werden

  • Massenmobilisierung und Gleichschaltung mit modernsten Medien

  • (Para-)militärische Organisation

  • (Pseudo-)religiöse Stilelemente

  • „Gesundes“ „ohne Rücksicht auf Verluste“ gegen „Artfremdes“ bzw. „Entartetes“

  • Brutale Repression jeder Opposition oder Abweichung

  • Kriegerische Expansion und Imperialismusm

  • Fokussierung auf Feindbilder und Sündenböcke

Müsste das Destillat noch konzentrierter und auf noch weniger und nüchternere Worte reduziert sowiegereiht werden, so würde der Unterfertigte nach dem Studium englischsprachiger Faschismusforschung die Gemeinsamkeiten „unserer beiden Faschismen“ am ehesten an Hand der folgenden zehn Schlüsselbegriffe zu erläutern versuchen:

  1. Mehrfachkrise

  2. Umwälzung

  3. Volksgemeinschaft

  4. Führerglaube

  5. Massenmobilisierung

  6. Endkampfstimmung

  7. Exklusion

  8. Anti-Egalitarismus

  9. Expansion

  10. „Killerinstinkt“

Dies, wie angedeutet, nur als „handliches“, eigenes Beispiel für einige von vielen möglichen Ausgangspunkten für Diskussionen. Weiter möchte der Unterfertigte im Rahmen seiner „politischen Bildungs-Fragestellung“ vorerst nicht gehen. Zu zahlreich, zu vielschichtig, zu unterschiedlich, und gleichzeitig jeweils in Teilen zu überzeugend, erscheinen ihm die Thesen, Theorien und Definitionsversuche der vergleichenden „generischen“ Faschismusforschung in englischer Sprache, mit denen er in sieben Monaten konfrontiert wurde, um es zu wagen, ihnen weiter gehende eigene Thesen oder Theorien hinzuzufügen, etwa gar „aus einem Guss“ und von aller Welt zu teilen. So etwas kann es aus meiner bescheidenen Sicht zu einem derart komplexen Phänomen und Begriff wie Faschismus genausowenig geben wie zu Begriffen wie Totalitarismus, Nationalismus, Moderne oder „politische Religion“. Wenn der Unterfertigte aus der intensiven Beschäftigung mit seinem Untersuchungsgegenstand etwas gelernt hat, so dieses. 

Ungeplant aus 35 Staaten angeklickt

Darauf waren wir eigentlich gar nicht aus, im Gegenteil: Die bisherigen hundert Beiträge in diesem Blog sind laut wordpress-stats bis jetzt in immerhin 35 Staaten bald zweitausend mal angeklickt worden. Am häufigsten in Großbritannien, gefolgt von Italien und Deutschland (unsere beiden Urfaschismuslieferanten fast gleichauf, fast wie beim Fußball…), mit einigem Abstand Österreich, dann überraschend Norwegen (vielleicht kommt das daher, dass Roger Griffin im Interview mit uns mehrmals den Namen des dieser Tage verurteilten norwegischen Massenmörders genannt hat) vor USA, Australien, Schweiz, Estland, Luxemburg, Finnland, Frankreich, Singapur, Ägypten, Niederlande usw.usf.

Manchmal hat sich vermutlich jemand zufällig hierher verirrt, der/die eigentlich etwas ganz anderes gesucht hat. Trotzdem staunt man über die fünfunddreißig Staaten, auch wenn man ein ziemlich kosmopolitisch denkender Europäer ist. Denn dieser Weblog schielt ja vom Thema, von der Deutsch-plus-sprachigkeit und von der Aufmachung her sichtlich und erklärtermaßen ganz bewusst keineswegs auf die Gunst des Publikums, noch dazu ohne jegliches persönliches Profil.

Wunderlich! Willkommen! Benvenuti! Ja, auch Sie! Welcome everyone of you, from each of all those surprising 35 countries!

Etwas überraschend finden wir nebenbei, dass ein Blog durchaus auch dann weiter angeklickt wird, wenn er sich mehr als zwei Wochen Urlaub nimmt. Den haben wir genommen, nachdem wir auf die hundert posts gekommen waren, die wir uns im Einvernehmen mit unseren akademischen Beratern bis zur ersten Augustwoche als Ziel gesetzt hatten. Die Pause wurde auch zum Weiterlesen, Diskutieren und Nachdenken genutzt.

Der Forschungsaufenthalt in Cambridge ist inzwischen zwar vorbei. Die Bearbeitung des dort gehorteten Materials geht jedoch bis auf weiteres intensiv weiter. Mit Zielrichtung Fazit. Soweit zu diesem facettenreichen Gegenstand überhaupt ein Fazit möglich ist. Schaumermal.

APuZ zu Nationalsozialismus

Dem Thema Nationalsozialismus widmet „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ), die von der Bundeszentrale herausgegebene monographische Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ zur Gänze ihre Ausgabe Nr.32-34/2012 vom 6.August (natürlich auf einem neueren Stand der Forschung als die Nr.14-15 aus dem Jahre 2007, die in Printform längst vergriffen, aber online unter www.bpb.de/apuz/30534/nationalsozialismus nach wie vor zu finden ist).

Zu diesem Thema enthält die Mittsommernummer der APuZ unter anderem die ungekürzte Bundestagsrede des bekanntesten deutschen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki zum Tag des Gedenkens am 27.Januar 2012. Uriel Kashi berichtet über den Wandel des Gedenkens in Yad Vashem, der weltweit größten Dokumentensammlung über den Holocaust: dort sind inzwischen sowohl die Opfer als auch die Täter nicht mehr auf anonyme Rollen reduziert, sondern haben ihre Namen und Gesichter und damit ihre Individualität zurückbekommen. Sandra Nuy schreibt über kollektive Erinnerung und Fiktion, vor allem über die Aufbereitung von Nationalsozialismus und Holocaust in Film und Fernsehen. Außerdem liest man eine Bilanz der seit zwei Jahren währenden Debatte über das Auswärtige Amt und das Dritte Reich aus der Feder des Historikers Christian Mentel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Internet-Portal http://www.zeitgeschichte-online.de.

Unter unserem Gesichtspunkt der vergleichenden Faschismusforschung sind hier jedoch vor allem die drei übrigen Beiträge der letzten ApuZ-Ausgabe Nr.32-34 vom 6.August zu zitieren.

Zunächst zwei Abituraufsätze von Berliner Gymnasiasten aus dem Jahre 1934:

Was hat Hitler für das Deutsche Volk geleistet?“ war das Thema. „Zur Zeit tiefsten Verfalls säte er Glauben, Hoffnung und -das Gefühl für– Ehre in den Gemütern“, schreibt ein Schüler; „Der Staat ist die Zusammenfassung eines einheitlichen Wollens“ fügt er hinzu: „Das Wollen unseres Volkes aber muss endlich einheitlich werden, wir müssen den gesunden Herdeninstinkt bekomme, den andere Nationen schon immer hatten„. „Ausschaltung und völlige Indienststellung der eigenen Person ist daher das Hauptziel der Erziehung zum modernen Dienen seines Volkes„, schrieb ein weiterer Abiturient des Jahres 1934: „Ich und jeder andere Volksgenosse, wir alle müssen darauf bedacht sein, zuerst immer für den Staat da zu sein, dann erst an uns zu denken.Freudige Bejahung des Staatsgedankens ist selbstverständliche Pflicht für mich und für jeden anderen Deutschen“. Restloser Einsatz, Eifer und Ehrgeiz seien dabei unabdingbar.

Solche Töne schlagen deutsche Schüler heutzutage wohl nur selten an, jedenfalls in Abituraufsätzen. Sympathien für den Nationalsozialismus äußert jetzt nur (oder immerhin?) jeder zehnte; jede/r vierte hat ein neutrales Bild von dieser Diktatur (ähnlich wie auch von der späteren kommunistischen). Das ist das auch international meistzitierte Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojekts der FU Berlin, enthalten in dem Buchtitel: „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ (Frankfurt 2012). Einen provokanten Titel haben die vier AutorInnen auch für ihre aktuelle Zusammenfassung in der letzten APuZ gewählt: „Ungleiche Schwestern? Demokratie und Diktatur im Urteil von Jugendlichen„.

Nach ihrer Befragung Tausender Jugendlicher in fünf deutschen Bundesländern vermelden sie „befremdliche bis erschreckende Ergebnisse“: „recht geringes zeitgeschichtliches Wissen“, „gravierende Fehleinschätzungen“ und „höchst bizarre Geschichtsbilder„, „die bisweilen fast abenteuerlich anmuten“ – und das trotz jahrelangem Geschichts-, Politik- und Sozialkundeunterricht.

Kaum zu erwarten, dass eine ähnliche Massenbefragung von Jugendlichen in anderen Ländern und Schulsystemen besser ausfiele, wo man viel weniger Wert auf zeitgeschichtliche und politische Bildung legt – und wo Politikerverachtung, antidemokratische Ignoranz und faschistoide Anwandlungen laut Wahl- und Umfrageergebnissen noch stärker zugenommen haben als in Deutschland. Unter diesen Voraussetzungen sollte kein Land,  schon gar keines, das mit beiden berüchtigsten historischen Faschismen zu tun hatte, die Befunde und Folgerungen der deutschen ForscherInnen ignorieren:

(S.26:) „Obschon…Freiheit für die Jugendlichen ein hohes Gut darstellt, sind sie oftmals nicht in der Lage, Einschränkungen oder Bedrohungen derselben in der (historischen) Realität zu erkennen.

(S.27:) „Damit einher geht für viele das Phänomen, dass die Trennlinien zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmen.

Daraus folgen hohe Anforderungen an die politische Bildung:

(S.27:) „Politische Bildung sollte ein Bewusstsein für die Bedeutung einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie wecken, damit Jugendliche die Wichtigkeit von Abwehrrechten, der Gewaltenteilung, der individuellen Freiheit und der Möglichkeit des gewaltlosen Regierungswechsels erkennen.“

Das bedeutet, dass politische Bildung in der Schule nicht wertfrei sein kann:

(S.26:)“Schulunterricht sollte nicht -wie nicht wenige Lehrer und Zeithistoriker behaupten- prinzipiell „ergebnisoffen“ sein, sondern er sollte dies nur in dem normativen Rahmen sein, den die freiheitlich-demokratische Grundordnung absteckt.

Zuviel des Guten kann sich allerdings kontraproduktiv auswirken. Bei mehreren Gedenkstättenbesuchen hintereinander z.B.

(S.26:) „…ist vielen Jugendlichen eine angemessene Verarbeitung der dargebotenen Information nicht möglich. In der entstehenden Verwirrung können Informationen verfälscht oder falsch zugeordnet werden oder es bildet sich eine Verweigerungshaltung heraus.

Und damit sind wir bei einer Frage, die uns besonders umtreibt: wie vermitteln wir zeitgeschichtliche und politische Bildung, ohne allergische Gefühle dagegen auszulösen? Davon handelt ein weiterer Aufsatz in der letzten APuZ, auf den wir hier demnächst in einem eigenen Beitrag eingehen.

(Quelle: „Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“,  Nr.32-34 vom 6.August (auch online zu lesen bzw. im PDF- oder EPUB-Format herunterzuladen unter http://www.bpb.de/apuz/141892/nationalsozialismus).

Lesenswerte aktuelle Mitbringsel aus Berlin

In diesem hundersten Blog-Beitrag seien die folgenden aktuellsten Mitbringsel einer Woche in Berlin zu unserem Gegenstand erwähnt und weiterempfohlen:

* „Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft„, das ist das Thema der Nr.314 (1/2012) der „Informationen zur politischen Bildung„, die vierteljährlich in einer Auflage von 650.000 (!) Exemplaren erscheinen und an fast allen deutschen Oberschulen kursieren. Autor des 84seitigen Textes, der den Stand der Forschung natürlich aktueller wiederspiegelt als das vor Jahren veröffentlichte letzte schwarze Heft zu diesem Thema, ist der Professor für deutsche Geschichte mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität in Berlin, Michael Wildt, unterstützt von Peter Krumeich.

* „Geht’s noch? Thema Nazis“ – damit beschäftigt sich die Frühjahrsausgabe des Magazins „Fluter“ (Nr.42), das die Bundeszentrale für politische Bildung ebenfalls vierteljährlich und ebenfalls kostenlos herausgibt. Die 52seitige Zeitschrift enthält gut geschriebene Beiträge unterschiedlicher Autoren mit Titeln wie: „Fremdenfeindlichkeit ist die Einstiegsdroge“ (ein Psychologe über „ganz normales“ Abrutschen in den Extremismus, „Keine Toleranz für die Intoleranz (wie man dem Terror von rechts begegnet), „Tanz den Mussolini“ („In den italienischen Fußballstadien tobt der Mob“), „Du Grammatik-Hitler!“ („Die Sprache des Nationalsozialismus macht uns heute noch das Leben schwer“), „Ich bin dann mal weg“ („Wie man aus der rechtsextremen Szene aussteigt“), und „Fascho-Fashion“ („Glatze und Springerstiefel waren gestern: der Neonazi von heute gibt sich gern popkulturell“).

* „Hitlers Elite„. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Von Christian Ingrao, bpb-Schriftenreihe Band 1257 (570 Seiten, 7 €), Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012: Wer immer noch glaubt, der Nationalsozialismus sei vor allem eine Bewegung der ungebildeten Massen gewesen, sollte dieses Buch des Direktors des renommierten Pariser Institut d’Histoire du Temps Présent lesen. „Glauben und Zerstören. Die Intellektuellen in der Kriegsmaschine“, diesen Titel trug die französische Originalausgabe 2010. Dargestellt werdenm die Lebenswege von 80 Akademikern unterschiedlicher Fakultäten. Sie machten vor allem in den Repressionsorganen des „Dritten Reiches“ Karriere – zuerst mit ideologischer und rechtlicher Grundlegungs- und Überwachungarbeit, vor allem im Sicherheitsdienst der SS, und dann in ihrer Mehrzahl als Angehörige von Einsatzgruppen, die direkt an der Ermordung der Juden in Osteuropa beteiligt waren.

* Die jüngste Doppelnummer (Nr.29-31) von „Das Parlament„, Wochenzeitung des Deutschen Bundestags (im Internet unter http://www.das-parlament.de neuerdings auch als kostenloses e-paper erhältlich) widmet 15 ihrer 16 Seiten dem Sonderthema „Rechtsextremismus, Angriff auf die Demokratie„. „Das darf sich nicht wiederholen“, so die Überschrift eines darin wiedergegebenen Interviews mit Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrichs (CSU) zur verstärkten Wachsamkeit der deutschen Ordnungshüter nach den Neonazimorden. Den radikalen Islamismus und den Linksextremismus behält man natürlich auch im Auge. Aber zur Zeit ist der Rechtsextremismus und der Rechtspopulismus (die Grenzen sind oft fließend) fast überall in Europa deutlich stärker: keine solche „Stimmenfischer am rechten Ufer“, wie sich „Das Parlament“ ausdrückt, sind in West- und Mitteleuropa zur Zeit nur (noch?) die Volksvertretungen von Irland, Großbritannien, Portugal, Spanien, Deutschland, Luxemburg, Tschechien und Slowenien; in allen übrigen Parlamenten ortet die Wochenzeitung des deutschen Bundestags zumindest rechtspopulistische Parlamentarier.

Abschließend aus dieser Hochsommer-Ausgabe von „Das Parlament“ die möglichst einfache Erklärung des Begriffs „Rechtsextreme“ in der Rubrik „Parlamännchen – Politik für Kinder“ :

„Menschen mit rechtsradikalen Einstellungen sind oft Außenseiter. Daher suchen sie die Stärke einer Gruppe und erheben sich über andere Menschen wie Homosexuelle, Juden oder Ausländer. Dabei orientieren sie sich an den Ideen der Nationalsozialisten, die für den Zweiten Weltkrieg und den Tod von Millionen Menschen verantwortlich sind. Früher erkannten sich Rechtsextreme oft an ihrem Aussehen. Sie trugen Symbole wie Hakenkreuze oder Reichskriegsflagge. Heute gehen sie auch in die Politik und geben vor, für schwierige Probleme ganz einfache Lösungen zu haben. Einige Rechtsextreme sind sehr gewalttätig und begehen schwere Straftaten wie Mord oder Totschlag.“

(Quelle: Alle genannten Schriften habe ich im Berliner Medien- und Kommunikationszentrum der Bundeszentrale für politische Bildung in der Krausenstraße 4/Ecke Friedrichstraße ansehen und mitnehmen können. Das gesamte umfangreiche (und wo nicht kostenlose, so sehr preisgünstige) Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung kann man außer am Bonner Sitz dieser weltweit einzigartigen, vorbildlichen Einrichtung, die formal dem Bundesinnenministerium untersteht, kann man auch online unter http://www.bpb.de und per Post nutzen bzw. bestellen, und zwar auch ins Ausland.)

P.S. Die weitaus meistpublizierte historische Attraktion in Berlin und Potsdam ist zur Zeit und während des ganzen Jahres Friedrich II. Wir haben uns erlaubt, den Großen, wie man ihn nennt, hier zu ignorieren. Denn mit unserem Gegenstand hat der 300.Geburtstag des kultivierten Königs von Preußen herzlich wenig zu tun.

Trübt die moralische Dimension den Blick?

In der Nachkriegszeit besonders, aber auch weiterhin, ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in und außerhalb Deutschlands, wie Ian Kershaw beobachtet, unweigerlich von der moralischen Dimension beherrscht, mit unterschiedlichen Zielscheiben und Untertönen, von verallgemeinernd bis verdammend, von verdrängend bis verteidigend. Härter als bei jedem anderen Thema sind hier die Historiker mit dem Dilemma konfrontiert, das sie nicht umhin können, ihren Untersuchungsgegenstand zu verurteilen, ihn aber trotzdem so weit wie möglich sine ira et studio erklären sollen, was ja ihre Hauptberufung sein sollte:

Whereas historians traditionally try to eschew moral judgement (with varying degrees of success) in attempting to reach a sympathetic ‚understanding'(Verstehen) of their subject matter, this is clearly an impossibility in the case of Nazism and Hitler.

Moralische Werturteile trüben den Forscherblick. Oder etwa nicht?

Wenn wir unseren Untersuchungsgegenstand verachten, wie können wir ihn dann jemals so verstehen, dass wir ihn uns und anderen plausibel erklären können?

In dieser Frage steckt wohl die größte Herausforderung bei der Erforschung des Faschismus.

Eine Herausforderung, der sich gewissenhafte Historiker und Politikwissenschaftler zwar auch angesichts anderer Regime zu stellen haben, aber kaum jemals in dieser Härte.

Eine gewaltige Herausforderung, deren Annahme Ian Kershaw und andere offensichtlich reizt, und die sie für wichtig und lohnend halten. Wir auch.

N.B. Wegen einer Reise könnte es sein, dass dieser Blog an den kommenden Tagen nicht wie gewohnt täglich (oder fast) aktualisiert wird. Aber im Laufe der nächsten Woche wird dann hier unter anderem die 100.Eintragung erscheinen.

Mit Sir Ian Kershaw zu klaren Fragestellungen

Ob er nicht irgendwann genug habe von Hitler, fragten wir ihn.

„Jetzt“, antwortete Ian Kershaw.

Das war im Juni, als er in einem verregneten Zelt im Dörfchen Hay-on-Wye viele Dutzend Exemplare sein jüngstes Buches „The End“ signierte. (Allan Lane, 2011. Der deutsche Titel lautet „Kampf bis zum Untergang. NS-Deutschland 1944/55“ und ist 2011 bei DVA erschienen).

The best-selling British historian, so wurde er den 1200 (!) anwesenden Bücherwürmern vorgestellt.

Für Verdienste um die deutsche Geschichte ist er bereits 1994 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden. 2012 machte ihn die britische Königin Elisabeth II. zu Sir Ian Kershaw. Für Verdienste um die europäische Verständigung erhielt er 2012 zusammen mit Timothy Snyder den Leipziger Buchpreis.

Aber weder die beiden Bände, die Ian Kershaw weltberühmt gemacht haben (Hitler: 1989-1936. Hubris, Hitler 1936-1945. Nemesis, beide W.W. Norton & Co 2000/2001; auf deutsch bei dtv 2002, auf italienisch 2004 bei Bompiani, u.v.a. Sprachen) noch sein obgenanntes jüngstes Werk sind für unsere vergleichende Fragestellung seine passendsten Bücher.

Ergiebiger sind da einige Kapitel aus zwei früheren Titeln: einmal „The Hytler Myth, Image and Reality in the Third Reich (Oxford University Press, 1987/2001; dt. „Der Hitler-Mythos. Das Profil der NS-Herrschaft„, 3.Auflage, dtv, München 2001); und zweitens „The Nazi Dictatorship, Problems and Perspectives of Interpretation (Hodder Arnold, London, 1985/1993 (auch auf dt. verarbeitet zu „Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick“ 3.Auflage, Rowohlt, Hamburg 2002).

Hier unsere Zusammenfassung einiger Grundgedanken aus dem letztgenannten Buch, in dem Ian Kershaw zunächst weit ausholt:

Alle Geschichte ist Zeitgeschichte, meinte Benedetto Croce: Jede Generation schreibt die Geschichte neu; die Perspektiven wechseln ständig. Das gilt besonders für die Betrachtung Hitlerdeutschlands. Kershaw hat da den Sisyphos-Ehrgeiz, zu mehr Klarheit beizutragen („grasping the essence of the Nazi system, there ought to be clarity„:

„The extent of the literature on Nazism is so vast that even experts have difficulty in coping. And it is clear to see that students specializing in modern German history are frequently unable to assimilate the complex historiography of Nazism and to follow interpretational controversies carried out for the most part in the pages of German scholarly journals or in scholarly monographs. My book was written with this in mind…it is an attempt to examine the nature of a number of central problems of interpretation…which confront present-day historians of Nazi Germany.“

Welche zentralen Interpretationsprobleme zum Beispiel?

„whether it can be most satisfactorily viewed

as a form of fascism

as a brand of totalitarianism, or

as a unique product of recent German history.“

Die Vergangenheit erklären ist allen Historikern aufgegeben. Aber bestimmte Vorgänge in NS-Deutschland wirklich verstehen und rational erklären ist eigentlich unmöglich:

The varied approaches to the history of the Third Reich…share a common aim: to offer an adequate explanation of Nazism.

Arguably an adequate explanation of Nazism is an intellectual impossibility.

Nur mit Vernunft sei die NS-Zeit unmöglich zu erklären; da spielt immer Emotionales und Moralisches mit hinein, wegen der -wie sich Kershaw ausdrückt- „Untrennbarkeit“ historischer NS-Forschung von der Notwendigkeit „politischer Bildung“ („...the inseparability of historical research on Nazism from ‚political education‘). Das ist es, was ein rein wissenschaftliches Verstehen von Faschismen so unmöglich macht, das Bemühen um Klarheit aber umso wichtiger; da teilt Kershaw ein latent feeling of some historians that, above all in grasping the essence of the Nazi system, there ought to be clarity.

Der forschende Blick von außen mag periodischen nationalen Historikerstreit klarer, jedenfalls distanzierter sehen als wenn er mittendrin von der Partie wäre. Kershaw sieht drei Dimensionen:

die historisch-philosophische, die politisch-ideologische und die moralische beim Thema Nationalsozialismus exemplarisch ineinander verwoben. Die dritte ist die problematischste:

Is it a matter of condemning a uniquely evil phenomenon which by the nature of its uniqueness can never repeat itself and is gone for ever?

Nein, drängt sich uns da als Antwort auf. Bräuchten wir den Faschismus nur verdammen, als etwas einzigartig aber unwiederholbar Böses, dann hätten wir es leicht. Kershaws zweite Fragestellung ist die grundsätzliche für unsere Auffassung von politischer Bildung:

Is it to draw lessons from this horror of the past about the fragility of modern democracy and the need to maintain a constant guard against the threat to liberal democracy from Right and Left?

Aus der Vergangenheit lernen, wie zerbrechlich moderne Demokratien sein können, und wie wachsam wir immer bleiben müssen gegen alle Bedrohungen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Und da wird in unserem Zusammenhang hier die dritte Frage, mit der er uns konfrontiert, die zentrale:

Is it to provide strategies for the recognition and prevention of the re-emergence of fascism?

Früherkennungs und Vorbeugungsstrategien gegen ein Wiederauftauchen des Faschismus – wir übernehmen auch diese Fragestellung für unsere Zwecke, weiten die Formulierung aber aus: „gegen ein Auftauchen faschistoider Tendenzen„. Denn uns geht es hier und heute nicht ausschließlich darum, etwas nicht „wieder“ auftauchen zu lassen, was sofort als „altfaschistisch“ identifizierbar ist, also etwas, das sich ausdrücklich von historischen Faschismen herleitet, sondern mindestens genauso um die rechtzeitige Erkennung und Vorbeugung von möglichen faschistoiden Entwicklungen, also solchen, die nicht unbedingt alle, aber einige wesentliche Grundelemente bzw. Gemeinsamkeiten der bekannten Faschismen so zeitgemäß-professionell unter die Leute bringen, dass sie heute oder morgen nicht „wieder“, sondern „völlig neu“ und cool wirkungsvoll sein können, wo in der Welt auch immer.

 

Italien, das erste Laboratorium des Totalitarismus

Der Begriff des „Totalitarismus“ sei eines der wesentlichen Elemente seiner Faschismusinterpretation, erläutert Emilio Gentile, jener italienische Historiker, der von der einschlägigen angelsächsischen Forschung am meisten geschätzt wird, 2007 in seinem Orientierungsaufsatz zum Faschismus in der Zeitschrift „Mittelweg 36„, dem wir heute folgende Ausschnitte entnehmen:

„Der Faschismus war historisch die einzige Einparteiendiktatur des 20. Jahrhunderts, die sich selbst als totalitäre Staatlichkeit begriff (…)
Der auf den Stalinismus und Nationalsozialismus eingeschränkte Gebrauch des Totalitarismusbegriffs, den wir bei so vielen Politologen und Historikern antreffen (…), hat beinahe vergessen lassen, dass dieser Begriff mit dem Faschismus und aus dem Faschismus entstanden ist (…)

Gefordert wurde die Konzentration aller Macht in den Händen der Partei und des Duce, geplant war die Faschisierung der Gesellschaft durch Kontrolle der Partei über alle Bereiche des öffentlichen Lebens mit dem Ziel einer, wie es Mussolini definierte, „Umgestaltung des Wesens“ der Italiener. Eine neue Rasse von Eroberern und Herrennaturen sollte geschaffen werden (…)

Meine Definition des Faschismus (…) beruht auf einer Analyse der konkreten historischen Wirklichkeit des italienischen Faschismus – gewonnen durch Forschung, Reflexion und durch den Vergleich mit anderen Einparteienherrschaften (…)

Mit dem Wort Totalitarismus“ definiere ich also ein Experiment politischer Herrschaft, verwirklicht von einer revolutionären Bewegung, die in einer militärisch disziplinierten Partei mit einer integralistischen Auffassung von Politik organisiert ist, ein Machtmonopol anstrebt und, sobald sie dieses Monopol mit gesetzlichen oder außergesetzlichen Mitteln erlangt hat, die vorherige Regierungsform zerstört oder umwandelt und einen neuen Staat errichtet, beruhend auf der Herrschaft einer einzigen Partei und mit dem Hauptziel einer Eroberung der Gesellschaft, d.h. der Unterwerfung, Integration undHomogenisierung der Beherrschten gemäß dem Prinzip der vollständigen Politisierung der individuellen wie kollektiven Existenz, die nun im Lichte der Vorstellungen, Mythen und Werte einer Ideologie nationaler Wiedergeburt gesehen wird, sakralisiert in Form einer politischen Religion mit dem Anspruch, Individuum und Masse durch eine anthropologische Revolution zu formen, das menschliche Wesen zu erneuern und einen neuen Menschen zu schaffen, der mit Leib und Seele für die Verwirklichung der revolutionären und imperialistischen Pläne der totalitären Partei kämpft, um eine neue supranationale Ordnung zu errichten.

Am Beginn des totalitären Experiments steht als Gründer und Urheber eine revolutionäre Partei, die ihr Machtmonopol als unaufhebbar betrachtet, die Existenzmöglichkeit anderer Parteien und Ideologien verneint und im Staat ein Mittel zur Verwirklichung ihrer Herrschafts- und Erneuerungspläne sieht. Die grundlegende Voraussetzung des totalitären Regimes ist eine revolutionäre Massenbewegung mit integralistischer Ideologie und dem Ehrgeiz, das staatliche Gewaltmonopol zu erobern. Das totalitäre Regime ist ein politisches System, das auf der Symbiose von Staat und Partei beruht und auf einem Komplex mächtiger Institutionen, beherrscht von den Hauptvertretern einer neuen Befehlsaristokratie, ausgewählt vom Führer der Partei, der mit seiner charismatischen Autorität die gesamte Struktur des Regimes beherrscht. Das totalitäre politische System funktioniert als Labor, in dem man am Experiment einer anthropologischen Revolution arbeitet, an der Erschaffung eines neuen Menschentyps.

Was den Totalitarismus im Sinne dieser Definition charakterisiert, ist seine innere Dynamik, die sich in der Forderung nach einer permanenten Revolutionausdrückt, einer kontinuierlichen Expansion politischer Macht, einer ständigen Intensivierung der Kontrolleüber die Gesellschaft mit stets neuen Eingriffen– die Gesellschaft soll durch ein immer weiteres und engeres Netz der Organisation und Integration ganz der Partei unterworfen werden.

Der totalitäre Staat als politisches Laboratorium ist zum fortwährenden Experimentieren verdammt, um seine anthropologische Revolution in der Gesellschaft zu verwirklichen. Dass ich den Totalitarismus als Experiment definiere und nicht so sehr als Regime, soll die Verbindung zwischen seinen wichtigsten Grundelementen unterstreichen und seinen dynamischen Charakter hervorheben – er ist ein ständiger Prozess und kann an keinem Punkt seiner Verwirklichung als abgeschlossen betrachtet werden.

Der faschistische Totalitarismus war ein Experiment, das sich nach und nach in der politischen Kultur, in den Institutionen und im Lebensstil des faschistischen Regimes verwirklichte, im Zuge einer komplexen Wechselbeziehung zwischen Ideologie, Partei und Regime. Das betraf nicht nur die Innenpolitik, die Institutionen, die Gesellschaft, die Kultur, es beeinflusste auch die Entscheidungen und Ziele der Außenpolitik.

Das totalitäre Experiment des Faschismus verschlang sich in seinen Rhythmen, Zeitabläufen und Methoden mit anderen totalitären Experimenten und endete wie jene in der Katastrophe. Gewiss gelang es dem Faschismus nicht, seine totalitären Wunschvorstellungen zu realisieren. Der Zweite Weltkrieg hielt ihn auf. Es ist daran zu erinnern, dass dieses totalitäre Experiment an der militärischen Niederlage zugrunde ging. Der Faschismus scheiterte nicht am Widerstand der Monarchie oder anderer traditioneller Institutionen, die erst aktiv wurden, nachdem der faschistische Großrat einem politisch bereits dem Untergang geweihten Duce das Vertrauen entzogen und so den Zusammenbruch des Regimes ausgelöst hatte.

Das totalitäre Experiment in Italien, das die faschistische Partei und ihr Führer in Gang brachten, weist zweifelsohne deutliche Unterschiede gegenüber denen des Kommunismus und Nationalsozialismus auf. Sie verringern freilich nicht seine historische Bedeutung für ein Verständnis des totalitären Phänomens im 20. Jahrhundert. Wenn es heißt, der Faschismus habe keinen „perfekten Totalitarismus“ verwirklicht, ist dem Befund sicherlich zuzustimmen.

In keinem totalitären Regime war das Gewaltmonopol rein monolithischen Charakters; nie ist die Eroberung der Gesellschaft vollständig gelungen; niemals hat die anthropologische Revolution den neuen Menschentyp hervorgebracht, der dem phantasierten Modell entsprochen hätte; auch konnte die politische Religion zu keinem Zeitpunkt die gesamte Bevölkerung in eine Gemeinschaft von Gläubigen verwandeln.

Zu konstatieren, dass es historisch kein totalitäres Experiment gegeben hat, das als „vollkommen “ oder „gelungen“ bewertet werden könnte, heißt aber gewiss nicht, der Totalitarismus habe nie existiert. Die totalitären Laboratorien wurden errichtet, und sie haben ihre Arbeit mit dem Ziel aufgenommen, den sozialen Organismus umzuformen und einen neuen Menschen zu erschaffen. Und bei ihren Versuchen haben sie die Existenz von Millionen Menschen berührt, verändert, beschädigt oder ausgelöscht. Es steht außer Zweifel, dass der faschistische Staat eines dieser Laboratorien gewesen ist.“

(Quelle: „Mittelweg 36“, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Heft 1/2007,zitiert gemäß http://www.eurozine.com/articles/2007-03-07-gentile-de.html)