Robert O.Paxton, emeritierter Professor der Columbia University in New York, zuvor in Berkeley (nach Studium in Oxford und Harvard), kennt sich wie wenige andere im Frankreich des Vichy-Regimes aus, das mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaboriert hat. Er hat aber auch 2004 ein vielbeachtetes Buch allgemeineren Inhalts geschrieben, The Anatomy of Fascism, das auch in einer deutschen Übersetzung erschienen ist (Die Anatomie des Faschismus, DVA, München 2006).
Die faschistische Ideologie äußert sich laut Paxton so unterschiedlich und so widersprüchlich, dass er versucht ist, sie rein funktionalistisch zu sehen:
Fascists propose anything that serves to attract a crowd, solidify a mass following, or reassure their elite acccomplices.
Faschisten böten das, was ihnen in ihrem wechselnden Umfeld gerade am geeignetsten erscheine, die Massen anzuziehen und bei der Stange zu halten – und den Beistand der Eliten zu sichern. Wenn man nur ihre Texte studiere, könne man ihre Taten nicht verstehen, denn diese stimmten mit jenen nicht nachhaltig überein. Demnach definiert Paxton Faschismus als eine Form politischen Verhaltens, die gefühlte kollektive Demütigungen und Verfallserscheinungen mit einem Kult der Kraft kompensiert und das Heil in der Gewaltanwendung sucht, in einer Massenpartei von militanten Nationalisten, im Abbau demokratischer Freiheiten, in innenpolitischen „Säuberungen“ und außenpolitischer Expansion ohne ethische oder rechtliche Einschränkungen, in einer begrenzten, aber wirkungsvollen Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten:
Fascism may be defined as a form of political behaviour marked by obsessive preoccupation with community decline, humiliation, or victim-hood and by compensatory cults of unity, energy and purity, in which a mass-based party of committed nationalist militants, working in uneasy but effective collaboration with traditional elites, abandons democratic liberties and pursues with redemptive violence and without ethical or legal restraints goals of internal cleansing and external expansion.
Faschismus definieren bedeutet für Paxton eine fünffache Herausforderung annehmen.
Wir fassen sie in Fragen:
– Auf welchen Zeitrahmen lässt man sich ein?
– Welche Abwandlungen rechnet man dazu?
– Wie lässt sich aus so viel Vielfalt etwas verallgemeinern?
– Inwieweit entspricht faschistische Praxis faschistischer Theorie?
– Ist ein so umstrittener und als Schimpfwort missbrauchter Begriff wissenschaftstauglich?
Paxton ist sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler. Wohl auch deshalb ist auch seine Sicht des Faschismus keiner der „Denkschulen“ zum Faschismus eindeutig zuzuordnen. Er findet aber klare Worte, z.B. zur marxistischen Interpretation des Faschismus, wie sie früher gängig war:
„Die Linke hat zwei Generationen gebraucht, bis sie verstanden hat, dass der Faschismus alles in allem eine authentische, massenhafte, volkstümliche Begeisterung ist, und nicht einfach nur die clevere populistische Manipulation von Emotionen durch reaktionäre Rechte oder krisengeschüttelte Kapitalisten.“
Aber auch neueren Zugängen zum Faschismus widerpricht Paxton deutlich. Manche überschätzten die Aussagekraft der äußeren Symbole des Faschimus. Was andere Forscher sehr ernst nehmen und durchaus mit Religion vergleichen, tut er als „Dekor“ ab. Die unterschiedlichen Varianten des Faschismus legitimieren sich eben nicht über eine schriftliche Überlieferung mit Anspruch auf universale Gültigkeit, über eine „heilige Schrift“, sondern über das, was sie als den authentischsten Ausdruck ihrer jeweils eigenen kollektiv-nationalen Identität hoch halten wollen, und das seien naturgemäß recht verschiedene Dinge. Von da her lässt sich für Paxton keine große allgemeingültige Faschismustheorie konstruieren.
Am meisten zu schaffen macht den Theoretikern des Faschismus dessen zweideutiges Verhältnis zwischen Doktrin und Aktion, so Paxton, die irrational irrlichternde Beziehung zwischen seinem Wort und seiner Tat. „Wir Intellektuelle“ neigten dazu, alle -ismen des 19.Jahrhunderts, also Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus usw., von ihrer Doktrin her zu bewerten – und analog dazu auch den Faschismus als etwas anzusehen, das in sich schlüssig und universal gültig sein wolle. Aber der Faschismus sei kein vernunftbetontes philosophisches Gedankengebäude für Notabeln (und solche, die es werden wollen), sondern etwas anderes: eine politische Praxis, die auf die Politik der Massen des 20.Jahrhunderts zugeschnitten ist.
Fascism is a political practice appropriate to the mass politics of the twentieth century.
Die Sprache der Faschisten mag sich an den Sozialdarwinismus anlehnen, aber es geht ihnen nicht um die „Richtigkeit“ einer Theorie (die sie nie hatten). DAS „Faschistische Manifest“ hat es nie gegeben. Sie verachten Vernunft und „des Gedankens Blässe“, wandeln locker von einer intellektuellen Position zur nächsten und zur übernächsten. Anders als bei der traditionellen Rechten, wo die Vernunft dem Glauben unterworfen wird, fühlt man sich hier nur schicksalhaften Blutsbanden untertan, d.h. dem Recht des „blutsmäßig“ Stärkeren, und dieser Stärkere hat man selbst zu sein. Die einzige moralische Richtschnur der Faschisten ist diesseitig: „das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“ ja, aber die jener Rasse, jener Nation, jener Volksgemeinschaft, die sich kühn und tüchtig und brutal durchsetzt gegen den Feind. Der Feind ist absolut unverzichtbar, muss aber nicht für alle Faschismen immer nur „der Jude“ sein.
Gefühl sei stärker als Gedanke und auch Glaube. Davon ausgehend, seien die Faschismen in der Mobilisierung der Massen anders, und stärker, als andere. Welche Gefühle?
Für Paxton haben alle Faschismen sieben mobilizing passions gemein, Leidenschaften mit stark motivierender und mobilisierender Wirkung. Dieser Zugang spricht uns an. Wir interpretieren ihn mit unseren eigenen Worten so:
1. Das Gefühl, dass die Gemeinschaft Vorrang hat vor allem anderen – und dass die Pflichten ihr gegenüber über allen Rechten stehen, die man hat, egal ob universell oder individuell.
2. Das Gefühl, dass die Gemeinschaft Opfer von inneren und äußeren Feinden ist – und dass dagegen alle Mittel erlaubt sind.
3. Die Angst vor dem Verfall der Gemeinschaft durch die „zersetzende“ Wirkung individualistischer und kosmopolitischer Liberaler.
4. Das Zusammenschweißen der Gemeinschaft zu einer Blutsbruderschaft, möglichst mit einheitlichen Überzeugungen, nötigenfalls mit gewalttätigen Säuberungen.
5. Die Stärke der Gemeinschaft stärkt das Zugehörigkeitsgefühl, die Identität und das Selbstbewußtsein der Einzelnen.
6. Überall in der Gesellschaft ist es allein die Autorität einer (männlichen) Führernatur, die das Schicksal der Gemeinschaft verkörpert.
7. Schön ist, was dem Endsieg der Gemeinschaft geweiht ist: man kultiviert eine Ästhetik des Säuberns und des Siegens, des reinen Willens, der nackten Gewalt.
Überall dort, wo Paxton nur Gruppe schreibt, haben wir hier den Begriff Gemeinschaft verwendet. Dies um die Überzeugungs- und Suggestivkraft solcher mobilizing passions hervorzuheben. Sie erscheinen uns als ein zentraler, und realistischer, Zugang zur Faschismusfrage: Wem es gelingt, solche Gefühle zu entfesseln, der/die kann in bestimmten historischen Situationen erwiesenermaßen Millionen BürgerInnen dazu bringen, sich auch jenseits von Gruppenzwängen ihrer Identität, Eigenverantwortung und Menschenwürde als Einzelne zumindest zum Teil freiwillig bis begeistert entledigen zu wollen, um sich im Heilsversprechen, in der Geschlossenheit und vermeintlichen Unschlagbarkeit einer „Volksgemeinschaft“ rund um einen Führerkult kollektiv besser aufgehoben zu fühlen.
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(Quelle: Robert O. Paxton, The Five Stages of Fascism, The Journal of Modern History, Vol. 70, No. 1. (Mar., 1998), pp. 1-23, The University of Chicago Press: http://w3.salemstate.edu/~cmauriello/pdfEuropean/Paxton_Five%20Stages%20of%20Fascism.pdf= http://links.jstor.org/sici?sici=0022-2801%28199803%2970%3A1%3C1%3ATFSOF%3E2.0.CO%3B2-3)
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