Der meistzitierte Faschismustheoretiker (Teil 1)

von macchiato

Weltweit der meistdiskutierte Faschismus-Theoretiker im 21.Jahrhundert, das ist Prof. Roger Griffin. Wir treffen ihn in Oxford an der Brookes University. Und so stellt er sich und die Entwicklung seiner Faschismus-Theorie vor:

„Schönen guten Tag! Es kann sich anhören, dass ich kein Deutscher bin: ich bin Engländer. Ich habe mein Deutsch an der University of Oxford gelernt, und ich hab‘ ein Jahr in Berlin verbracht, im Jahre 68/69, wo da viel los war. Ich hab mich seither in Geschichte spezialisiert, zumal in vergleichenden Faschismus-Studien. Vielleicht überrascht es, wenn ich von Faschismus außerhalb von Italien spreche. Aber hierin liegt das große historische Problem. Natürlich gab es einen Faschismus, den von Mussolini; der dauerte von 1922 bis 1945, hat seine eigene Geschichte, und die gehört Italien. Faschismus, das war der Name, den Mussolini seiner Bewegung gab.

Aber schon zu Mussolinis Zeiten haben Kommunisten und Sozialisten auch andere Bewegungen, die in ihren Augen dem italienischen Faschismus ähnelten, so bezeichnet. Sie sahen im Faschismus eine Reaktion gegen ihren eigenen Aufstieg in verschiedenen europäischen Ländern. Hitler und seine Bewegung haben den Begriff Faschismus selbst nie auf sich angewendet. Aber die Kommunisten in Europa sahen in den Dreißiger Jahren in der Hitler-Bewegung eine Reaktion auf ihre Revolution.

Hitler und Mussolini trieben beide den Nationalismus auf die Spitze. Im Nationalismus sahen sie die Lösung für die vielen Probleme der Nation. Beide beseitigten das Parlament, verletzten die Menschenrechte usw.. Die Kommunisten sahen in diesen beiden Regimen, und auch in anderen Bewegungen, die nicht an die Macht gelangten, denselben Kern. Und als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, sahen die Linke in Europa, und auch in den Vereinigten Staaten, im Bürgerkrieg General Francos gegen die Linksregierung einen Zusammenprall von Faschismus und Sozialismus. Dann verbreitete sich der Begriff des Antifaschismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sozialistisch und marxistisch eingestellte Historiker auf diesen zurück als auf einen Weltkrieg gegen den Faschismus. Andere Historiker sahen das ganz anders: die meisten deutschen Historiker, die nicht marxistisch waren, sahen in der Hitler-Bewegung nicht so sehr den Faschismus, sondern etwas Einzigartiges, nur zur deutschen Geschichte gehörig, nicht außerhalb der deutschen Geschichte verständlich.

Als ich in den Achtziger Jahren begann, mich mit Faschismustheorien zu befassen, versuchte ich, eine Definition des Faschismus zu entwickeln, die Licht auf dieses Problem warf. Da sah ich Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten zwischen den verschiedenen sogenannten faschistischen Bewegungen, die sich nicht in der Reaktion und dem Kampf gegen den Sozialismus erschöpften: gewisse Ähnlichkeiten im Mythos des Faschismus, dem Mythos der Wiedergeburt der Nation.

Als ich die Propagandaschriften verschiedener Faschisten las -englisch, aber auch spanisch, französisch, deutsch und italienisch- beobachtete ich eine Regelmäßigkeit, die von anderen Historikern völlig vernachlässigt wurde: die Obsession mit Dekadenz, Verfall und Zersetzung der Nation einerseits – und Wiedergeburt, Wiederaufbau, Verjüngung der Nation andererseits.

Das hat für mich viele Ereignisse erlärt, die sonst in meinen Augen nicht erklärbar waren.
Ich kann ein gutes, d.h. ein schreckliches Beispiel geben: z.B. für die Kommunisten war Antisemitismus in der Nazi-Zeit nur ein Ausdruck des nationalistischen Fanatismus. Der war aufgehetzt worden von Hitler, um den Aufstieg der Kommunisten zu bekämpfen. Aber ich habe im Antisemitismus eine ganz andere Tendenz gesehen, und zwar den Kampf gegen eine mythische Dekadenz und Verfall, die in der Persönlichkeit selbst, im Charakter „des Juden“ irgendwie versinnbildlicht waren. Diese „Rasse“ musste beseitigt werden, um das Blut und die Nation und „den Charakter der Deutschen“ zu „reinigen“.

Für mich war die Propaganda der Nazis nicht nur eine große Gehirnwäsche. Mir ist immer klarer geworden, dass die Nazis ihren Glauben an die Möglichkeit zur „Verjüngung“ der deutschen Nation durch Beseitigung aller Erscheinungen von Dekadenz sehr ernst nahmen. In dieser Hinsicht war ihr Feldzug gegen die körperlich und geistig Behinderten, die Homosexuellen, die Juden, Alkoholiker usw., und die Tatsache, dass ganze Kategorien von Menschen beseitigt wurden, in den Augen der Nazis selbst nicht jene Barbarei, als welche sie die meisten Historiker vorrangig sehen, sondern ein heroischer Versuch, aus der Weimarer Asche eine „neue Nation“ zu konstruieren.

Diese Interpretation des Nazismus und des Faschismus hat zu einer Menge Publikationen, Veröffentlichungen meinerseits geführt. Ich habe mich mit der Zeit als ein sogenannter Sachverständiger oder Experte in diesem Bereich etabliert. Es gibt eine Menge Historiker, die meine Meinungen nicht teilen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Es gibt aber auch -und das ist für mich natürlich sehr befriedigend- eine Menge jüngerer akademischer Experten, die meine Meinung teilen. Sie haben einige sehr schöne Bücher über Aspekte der italienische, spanischen, deutschen und englischen Geschichte des Faschismus geschrieben, in denen sie meine Theorie stark vertieft haben.

Ein sehr schönes Beispiel dafür ist ein neues Buch, von einem gewissen Fernando Esposito. Es handelt von der Fixierung der italienischen und deutschen Faschisten auf die Luftfahrt, mit Flugzeugen, Luftwaffe usw.. Er hat in dieser Obsession eine Liebe, einen Hang zur Technologie, zur Modernität, zum Modernismus gesehen. D.h. er hat in dem Faschismus und in dem Nazismus einen Drang nach einer neuen Moderne gefunden, und das hat er tausendfach belegt und bekräftigt. Er hat mir geschrieben, es sei meine Theorie der Wiedergeburt gewesen, die ihm die Augen geöffnet habe für die Modernität der beiden Regime.

Ich habe meinen eigenen Ausdruck dafür erfunden: palingenesis. Das hat seine eigene Geschichte als Wort. Palingenesis ist ein griechisches Wort für Wiedergeburt. Ich sehe im Mythos der Wiedergeburt, des Neuanfangs, des Aufbruchs einen sehr wichtigen mythischen Kern des Nazismus und des Faschismus. Was mich von den traditionellen Historikern unterscheidet, ist diese Anerkennung des Dranges nach einer alternativen, einer neuen Modernität, die für die Nazis und die Faschisten selbst nicht eine Barbarei war, nicht eine Repression, nicht eine Reaktion, sondern eine echte Revolution. Sie fühlten sich in ihrem ganzen Nationalgefühl, in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl frontal angegriffen von der Revolution der Kommunisten und Sozialisten: denn wenn man anfing, sich mehr als Kommunist zu fühlen denn beispielsweise als Deutscher oder als Italiener, dann -so meinten sie- zerstöre das jedes nationale Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die Faschisten und die Nationalsozialisten wollten eine neue Art von Nation auf der Nationalität, auf dem Nationalismus aufbauen, und zwar in einem revolutionären Sinn: sie wollten die Demokratie und den Liberalismus beseitigen und zerstören; sie wollten den Kommunismus auf einen Schlag für alle Ewigkeit völlig zerstören und aus der Geschichte verbannen; sie wollten eine neue Art von Modernität im Herzen von Europa stiften; und das verstanden sie als Rettung der Zivilisation an und für sich.

Um dieses Projekt zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass es in der Zwischenkriegszeit nahelag, sich einzubilden, dass die gesamte westliche Zivilisation bedroht war, dass sie zum Scheitern verurteilt war. Das war die Zeit, in der Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ sehr viel gekauft -wenn auch nicht sehr viel gelesen- wurde. Für die meisten Europäer jener Zeit war die gesamte Zivilisation in eine sehr tiefe Krise geraten. Die Faschisten und die Nationalsozialisten boten eine gründliche Lösung der Krise an. So gründlich, dass sie nicht nur materielle, sondern -noch wichtiger- geistige und geistliche Erlösung versprach. Für mich ist es absolut notwendig, diese geistige Seite des Faschismus zu verstehen. Sonst versteht man nicht die Barbarei. Man kann das Genozid der Juden nicht verstehen, wenn man nicht verstehen will, was die Juden für die nazistische Mentalität versinnbildlicht haben.

(Quelle: Audio-Aufzeichnung von faschistensindimmerdieanderen mit Roger Griffin am 25/05/12 in Oxford; Fortsetzung folgt)